Julia Seeliger
  • Neocons: Antimodern, spießig, rechts

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    13. January 2007 | Trackback | Internet ausdrucken
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    Einen sehr spannenden Artikel hat Claudia Roth zusammen mit ihrem Mitarbeiter Reinhard Olschanski im “Freitag” veröffentlicht. Dort geht es um die Neokonservativen – besser gesagt um neokonservative Politik und die Philosophie derselben im Spannungsfeld mit liberalen Werten und der Moderne.

    These: Die Neokonservativen pendeln zwischen rechtsextremer Mitte und Neuer Spießigkeit. Der Artikel “Der letzte Paukenschlag” hinterfragt historisch und philosophisch neokonservative Denkweisen. Die praktischen (politischen) Folgen einer solchen Denke sind ja leider überall auf der Welt sichtbar:

    Schneidigkeit, Missionarismus, mythische Feindbildkonstruktion – die Grundelemente neokonservativer Herrschaft haben nicht nur ins Irak-Desaster geführt, sie haben eine neue Generation von Terroristen hervorgebracht, einen Kulturkampf zwischen großen Teilen der westlichen und der islamischen Welt angeheizt, die Durchsetzung des Menschen- und Völkerrechts konterkariert und in vielen Ländern das Streben nach Atomwaffen verstärkt.

    In Amerika befindet sich der Neokonservatismus ja gerade in einer Krise; das, was in deren Thinktanks erdacht wurde, ist ja ganz offensichtlich nicht einer gerechten und friedlichen Weltordnung zuträglich. In Deutschland dagegen, so Roth/Olschanski, sei die Krise noch kaum angekommen.

    Die fehlende Reaktion liegt am diffuseren Erscheinungsbild dieser Strömung in unserem Land, aber auch am Wissen darum, dass der Neokonservatismus als Bush-Karte eine Verliererkarte ist, die man tunlichst nicht offen ausspielen sollte. Neokonservative Positionen gelangen bei uns mehr als zeitgeistige Einwürfe auf das mediale Spielfeld – oder als schrille Titel in nachrichtenmagazinlicher Anführung: Die Deutschen müssen das Töten lernen.

    Der Anti-Islamismus der Neokonservativen zeigt sich jedoch nicht nur in der (globalen) US-Politik, sondern manifestiert sich auch in den Debatten in Deutschland. Das führe, so Roth/Olschanski, zu “atemberaubenden Volten”: Dort, wo es um Muslime gehe, kämpften (plötzlich) Konservative für Frauenrechte, Demokratie und Fortschritt:

    Und während sie zum Thema “Gewalt in der Ehe” konsequent schweigen, verbreiten sie sich talkshowfüllend zum Thema “Gewalt in der muslimischen Ehe” – kürzen gleichzeitig Gelder für Frauenhäuser und vergessen, dass sie kurz zuvor noch gegen die Anerkennung von geschlechtsspezifischer Verfolgung als Asylgrund in der Bundesrepublik Sturm gelaufen sind.

    Im letzten Sommer fand nicht nur die Fußball-WM statt, sondern es erschien auch ein Buch von Eva Herman, das wochenlang diskutiert wurde. Nicht nur die Islam-Debatte prägt neokonservatives Denken, sondern auch die Fragen der Geschlechterdemokratie. In dieser Frage finden sich direkte Parallelen zur Denke der Rechtsextremen:

    Volk, Familie, Religion – das sind die drei vermeintlich “organischen” Formationen des Sozialen, die der Neokonservatismus als Sinn und Zusammenhalt stiftende soziale Urgebilde wiederentdecken will. Und sein Kulturkampf wird entsprechend auf drei Bühnen zugleich inszeniert: Volk und Nation gegen “Multi-Kulti”, Familie und neue Mütterlichkeit gegen “Emanzentum” und evangelikal orientiertes Christentum gegen den Islam – aus diesen Kämpfen soll die verlorene Bindekraft des Sozialen wiedererstehen.

    Eins habe ich mit den Konservativen gemeinsam: Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist für mich schon lange eine zentrale Frage: Was hält uns zusammen?

    Anders als die Konservativen meine ich aber, dass die zunehmende Individualisierung in unserer Gesellschaft ein Fortschritt ist. In einer zunehmend individualisierten Gesellschaft, mit vielen kleinen, diversifizierten “Szenen”, können Menschen aber auch “verloren” gehen. Das darf nicht passieren, denn das ist ungerecht und es nimmt denjenigen Menschen ihre Entfaltungsmöglichkeiten, ihre Freiheit!

    Die Fragen rund um den gesellschaftliche Zusammenhalt sind zahlreich, das ist ein unglaublich großes Thema, und es berührt so viele Teilaspekte: Prägnante Beispiele sind Fragen um Migration (Wie gestalten wir eine multikulturelle, offene Gesellschaft?), Demografie (Wie bringen wir die Bedürfnisse alter und junger Menschen in Einklang? Wie und Wo sollen alte Menschen leben?), Kinder- und Bildungspolitik (Wie und Wo können Kinder geschützt aufwachsen? Wie wecken wir ihre Talente?), Behindertenpolitik (Wie gehen wir mit denjenigen um, die nicht der “Norm” entsprechen?). Und nicht zuletzt die Familienpolitik (In was für Gruppen finden sich Menschen zusammen? Muss das durch biologische Beziehungen – also Verwandschaft – definiert sein? Oder kann nicht genauso auch in “Wahlverwandschaften” Solidarität und Zusammenhalt gelebt werden?)

    Für mich ist klar: Nur eine Politik, die die Würde des Menschen in den Mittelpunkt stellt, wird die Probleme der Gegenwart und der Zukunft lösen können. Roth/Olschanski meinen:

    Vieles ist spruchreif für einen Neuentwurf von undogmatischer linker Politik. Die Krise der Neokonservativen kann hier ein Katalysator sein. (…) Zu wünschen wäre es und zu tun gäbe es genug, auch für eine erneuerte Linke, die dringend angehen muss, was eine neokonservative Hegemonie in den USA über Jahre torpediert hat.

    Das meine ich auch.


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6 Responses to “Neocons: Antimodern, spießig, rechts”

  1. […] In meinem Blog habe ich diesen Artikel ausgiebiger dokumentiert, ich finde ihn jedoch so bemerkenswert, dass ich hier eine kurze Meinung zu dem Thema verfasse. […]

  2. Sabine Bergmann

    dein blog ist für mich ein highlight des Tages!

  3. > Dort, wo es um Muslime gehe, kämpften (plötzlich) Konservative für Frauenrechte, Demokratie und Fortschritt:

    Das liegt auch daran, dass Progressive es verschlafen haben oder schlicht verweigern, sich mit den Gefahren der islamistischen Ideologie und Praxis auseinanderzusetzen: Geschlechtergerechtigkeit, Freiheit der sexuellen Orientierung, Trennung von Staat und Religion und der liberale Verfassungsstaat überhaupt sind nur leere Hülsen, wenn man sie nicht gegen ihre erbitterten WidersacherInnen verteidigt.

  4. Mein Versuch den Artikel von Roth/Olschanski zu lesen und auch zu verstehen, ist mir gründlich misslungen, ich verstehe nicht was die beiden eigentlich sagen wollen…

    (“Ein Stolperstein für Konvertiten ist auch die Parallelität von Neo- und Paleokonservatismus.”)

    Von solchen Wortgestaltungen und anderen Fremdwörtern wimmelt es nur so im Text. Diese irrwitzigen Satzkonstruktionen…wer soll das denn verstehen, wer hat denn die intelektuellen Voraussetzungen dafür? Kann man so Politik machen? Und Frau Roth ist ja schließlich die Vorsitzende einer Partei und Hr. Olschewski ihr Mitarbeiter…soll also heissen, ist man Grüner, versteht man das Ganze auch? Oder sind die Grünen jetzt eine totale IntelektuellenPartei?

    “Für mich ist klar: Nur eine Politik, die die Würde des Menschen in den Mittelpunkt stellt, wird die Probleme der Gegenwart und der Zukunft lösen können.”

    Nun gut, wenn das die Konsequenz aus dem Artikel ist, dem könnte ich zustimmen.

    Andernfalls halte ich diesen Artikel für ein Nebelkerze um von den wahren Tatsachen abzulenken…

  5. Man koennte an dieser Stelle anmerken, dass sich ‘Neokonservative’ in etwas erweitertem Sinne auch unter Oekologen finden, sogar Neorechte, Neofaschisten. Ich halte tatsaechlich die Existenz rechter, irrationaler Stroemungen in vermeintlich ‘linken’ Kontexten für mindestens ebenso bedeutend und, insbesondere im deutschen Kontext, schwerwiegend, wie die Existenz der Neocons in den USA. Um die ‘Oekofaschisten’ auszumachen, kann man allerdings nicht auf weit entfernte Erdteile weisen, man muesste hier beginnen, bei der erschreckend regionalen Oekoelite. Vielleicht hier ein nicht mehr ganz taufrischer Text:

    http://www.spunk.org/library/places/germany/sp001630/janet.html

    Ich weiss nicht, ist Julia sich DIESES Problems hinreichend bewusst?

  6. Was ist falsch an Kulturerhaltung, Naturverbundenheit und Menschenrechten?