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Ich packe meinen Koffer in Berlin
16Jetzt ist es wirklich so weit: Ich ziehe aus Berlin weg. Doch halt, nochmal umschauen – Wie bin ich da eigentlich hingekommen?
Wir fahren mit dem Zug … stundenlang …
… über Bremen, Braunschweig nach Berlin. Und ein Typ, er hieß Benni, spielte stundenlang dieses monotone Lied von zweifelhafter Schöpfungshöhe auf der Gitarre. Das muss 1996 gewesen sein und wir brauchten für die Strecke Buchholz-Berlin acht Stunden.
Jahre später: Braunschweig. Auch mit B, auch schrottig, dafür aber nicht so groß. Gerade hatte ich mein Lehramts-Studium abgebrochen – ich dachte, ich sei Kindern mit meinem Lebenswandel ein schlechtes Vorbild – und jobbte beim Lokalradio. Kurze Zeit später sollte ich nach Bonn ziehen und dort mein Technikjournalismus-Studium beginnen. Oder doch Berlin, einfach so? Weil dort riesige Altbauwohnungen in Mitte für tausend Mark zu haben waren? Weil in Berlin so coole Leute wie die von der Kunsthochschule Braunschweig wohnten und ständig wieder das Umzugsauto vor unserem Haus anrollte, um eine weitere Wohnung 250 Kilometer östlich zu verfrachten? Weil es 2001 eigentlich höchste Zeit war, in Berlin anzukommen, bevor alles vorbei wäre? “Geh nach Berlin, Julia”, predigte mir mein damaliger Mitbewohner Ernesto, nachdem er drei Tage in der Hauptstadt verschollen gewesen war, “In Berlin scheint immer die Sonne”.
Die Argumente waren nicht gut genug. Ich zog nach Bonn.
Bonn ist ein Gegenentwurf zu Berlin: Katholisch, pittoresk, bürgerlich. Hier geht man nicht einfach über die Straße, wenn Kinder an der Ampel stehen. Gemächlich zieht es die Schiffe den Rhein herunter, weit reisend vorbei an Burgen und Weinbergen. Der Rhein führt in die Nordsee, nicht nach Berlin.
Berlin war aber immer da. Meine Fachhochschule: Nur als Tausch für die Hauptstadt errichtet. Ministerien und deutsche Geschichte, wohin das Auge blickt. Die Bundeszentrale für politische Bildung hat zwei Medienzentren: Eins in Bonn und eins in Berlin. Beide Orte sind auf der ZDF-Wetterkarte vermerkt. Der ICE verkehrte damals noch im regelmäßigen Pendeltakt zwischen Berlin und Bonn.
Und dann kam die Parteipolitik. Da musste ja Berlin kommen. Es ist immer gleich: Dieses Leuchten in den Augen, wenn sie dann beiläufig erzählen: “Ich ziehe jetzt auch nach Berlin”. Das ist wie bei Reinald Grebe (“Berlin, Hallelujah, Berlin!”) oder Kaiserbase (“Berlin, du bist so wunderbar”). Von “Seeed – Dickes B” bin ich ab, auch wenn ich manchmal noch “Im Sommer tust du gut, im Winter tut’s weh” summe. Kaum war ich in den Bundesvorstand der Grünen Jugend gewählt, musste ich nach Berlin ziehen.
Weil das ja klar ist!
Bewusst wohnte ich mit Nicht-Grünen zusammen – Mit den Jungs und Mädels aus dem Bundesvorstand verbrachte ich ja schon genug Stunden im Zug. Berlin war für uns BuVos auch die Homebase, die uns gemütlich am Zoo empfing, wenn wir von Wochenend-Veranstaltungen zurückkamen. Berlin, wo die BVG Tag und Nacht fährt. Wo die Häuser vielstöckig und die Straßen breit und voller Feinstaub sind.
Und außerdem
- Ost und West
- eine Kultur der Rotzigkeit
- Großstadtanonymität
- Tanzdemos
- “Freibad Wedding”
- Kottbusser Damm 75 // Quadrate und Spiegel
- die Spree
- der Treptower Park
- natürlich auch der Görli
- die schöne U1 mit der Fahrt über die Oberbaumbrücke
- rumfahren und rauskucken mit der Ringbahn
- Der Stadtteil Mitte mit der Bundesgeschäftsstelle – inklusive Garten, in dem wir im Bundestagswahlsommer nicht campen durften
- ein kurzes Intermezzo bei neudenk
- sündhaft teure Boutiquen, in denen ich niemals einkaufte
- Motzladen und Kilo-Laden, die beiden Kumpels
- meine WG
Jetzt muss ich weg von dir, aus Berlin, wo man an der roten Ampel geht, weil die Leute ihre Kinder selbst erziehen können. Immer in Erinnerung bleiben werden die einzigartigen selbstorganisierten Open-Air-Partys im öffentlichen Raum, auf Plätzen, in Parks und Wäldern – oh ja, in Berlin, da scheint immer die Sonne!
Bildnachweise
- berlynas, two towers: maantas – Lizenz: CC-BY-NC
- summer in berlin at bar25: Timo Pawelz – Lizenz: CC-BY-NC
Einsortiert: berlin
Verschlagwortet: berlin, niedersachsen, umzug, verden
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16 Responses to “Ich packe meinen Koffer in Berlin”
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Edo
Weshalb ziehst du denn weg, Beruf oder was an dieser Stelle nicht auszuwalzendes Privates?
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Erzählst du auch was dich dort hintreibt?
Ich ziehe in die Nähe von Verden, schon ab dem 15.12. arbeite ich im dortigen Ökozentrum, nämlich bei Campact.
@Malte Bin aber bisweilen noch in “der Stadt”. Können uns dann verabreden und über Farben quatschen.
Ach ja, danke für das Lob zu dem Artikel. Am Ende könnte er doch noch etwas runder sein, findest du nicht?
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Du musst aus Berlin weg, da kann einfach kein runder Abschluss sein…
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Können uns dann verabreden und über Farben quatschen.
Abgemacht! ElektroBrief hast du schon im Postfach. Ich würd mich freuen …
… und ich finde der Artikel ist eine
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Du musst aus Berlin weg, da kann einfach kein runder Abschluss sein
Hach, ja – schon schade.
Hallelujah Berlin!
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Für rotzkulturelle Großstadtanonymität steht für dich auch stets ein Sofa im Ruhrpott bereit – ihr wisst schon der Menschenschlag, welcher als Kriegsdienstverweigererschwemme Berlin erst zu Berlin gemacht hat
😉
Nur falls dir die Pampa zu öde wird.Das war übrigens ein sehr sympathischer Beitrag von dir.
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Für rotzkulturelle Großstadtanonymität steht für dich auch stets ein Sofa im Ruhrpott bereit
Oho, ja – ich schau gleich mal bei bahn.de
Und das andere, was du geschrieben hast, war auch nett!
🙂
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In Verden wirst du aber eher schief angeguckt, wenn du bei Rot über die Straße gehst als in Bonn. 🙂 Anyway, schön mal wieder was von dir zu lesen. Hab ne gute Zeit in Verden! LG
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[…] Ich packe meinen Koffer in Berlin Ach, Frau Zeitrafferin jobbte beim Lokalradio? Was es nicht alles gibt… (tags: politik blog blogs Radio) […]
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Hermann
Hi Julia,
wunderbarer Artikel, vielen Dank! Gerade etwas grau hier – die Seite gibt’s auch…
Eine Hymne aus den 80ern könntest Du noch zufügen: Ideal – Ich steh’ auf Berlin!
Allet jute
:-)) Hermann
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Julia, sehr schöner Post. Hachherje… Großstadtromantik =)
Viel erfolg mit Compact! (Erinner da mal an Stade, drei Kohlekraftwerke wollen die uns hier hinsetzen ;))
lG
Hauke
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Campact! A! A!
Kommt von “KAmpagne” bzw. “CAmpaigning”
Compact erinnert mich an “KOmpaktmedien”. Oder an so Computerquatsch, Computer-Fachhandel oder sowas.
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der Artikel ist rund, weil er offen bleibt – so wie die Stadt, immer offen, rastlos, weil haltlos – nichts festes, nichts ewiges, nichts, was da ist, also auch nichts das gehen könnte
der artikel ist nicht rund, weil du nicht weg bist und nie wieder sein wirst, egal wo – das macht ihn rund
selten eine solche natural-born-berliner-pflanze wie dich gesehen 😉
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Mario Behling
Mensch Julia, ist doch hoffentlich nicht fuer immer, hm? Na, wat is schon fuer imma? Lass es dir gut gehen, Berlin ist sowieso nur in zweiter Hinsicht ein Ort, es ist eher ein Gefuehl und eine Weltsicht 🙂
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Gunnar
Ich wundere mich das sich die Menschen wundern, wenn jemand aus der Großstadt auf so “spießige” und “flache” Land zieht.
Ich lebe gerne auf dem Land. Ich empfinde die Ansichten der Großstädter oft als sehr arrogant. Klar, gibt es bei euch mehr Kulturangebote und, und, und. Aber auch mit weniger fühle ich mich wohl.
Aber ich würde auch gerne mal eine Großstadt testen. Mal schauen was noch alles kommt.
Dann möchte ich aber nicht auch herrunterschauen.
Viel Spass in Verden.
Gruss
Gunnar